Eine fingerdicke Eisenplatte auf dem Werksgelände des Bochumer Vereins gibt quietschend den Blick nach unten frei. Steigbügel führen tief hinab. Hinunter in geheime Stollen und Schächte. In Bochums etwas anderen Untergrund. Nicht aus Kohle, sondern aus gebrannten Ziegeln, Beton und Stahl.
Stockfinster ist es. Der Strahl der massigen Taschenlampen tanzt unruhig durch das Dunkel. Fällt auf Rohre so mächtig wie der Stamm eines uralten Baumes. Auf Leitungen und ein Gewirr von Kabeln. Zentimeterdicker Staub überdeckt den Boden. Doch die Luft ist hier unten erstaunlich frisch. Der Muff eines halben Jahrhunderts dringt kaum merklich durch. Es riecht nach Altbau, bereichert um die Duftnote von rostendem Stahl und Schmierfetten.
"Wir gehen langsam vor. Achten Sie immer darauf wohin sie treten", schärft Michael Ide mir ein. Der Diplom- Ingenieur arbeitet beim Tiefbauamt. Er und Schlossermeister Wilfried Maehler teilen ein Hobby. Sie gehören dem Studienkreis für Bunker, Stollen, Deckungsgräben und unterirdischen Fabrikationsanlagen an. Und davon gibt es in Bochum reichlich. Allein der Bochumer Verein hat über 30 Kilometer Transport- und Produktionsstollen tief unter der Erdoberfläche vorgetrieben, aus- oder umgebaut.
Es ist eine Zeitreise durch die Vergangenheit. Durch ein weit verzweigtes Netzwerk von unterirdischen Gängen. Angelegt in mehreren Tiefenebenen Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Stahlkocher in Bochum Fuß fassten. Später umfangreich ausgebaut, um die geheime Produktion von kriegswichtigem Material ungebremst aufrecht zu erhalten. Ganze Fabriken in bis zu 80 Meter unter Tage, in denen in drei Schichten simple Schrauben, aber auch Fahrwerke für Flugzeuge, Kanonen und Munition entstanden.
Ein ausgeklügeltes System, das Zechen und Stahlwerke miteinander verband. Ehemalige Bergwerksstollen umfunktioniert zum zusammenhängenden Höhlensystem. Hauptsächlich in der ersten Sohle, in einer Tiefe von etwa 30 Metern. Eine wichtige Verbindung war der Stollen des Bochumer Vereines zur unteren und oberen Stahlindustrie. Er führt über den Friederika-Unter- und Oberstollen hin zum Friedrichs-Erbstollen, Ecke Königsallee/Wasserstraße.
Des Weiteren die Gänge des Gussstahlwerkes zum Stahlwerk Weitmar, besser bekannt unter dem Namen Rombacher Hütte, und zur Zeche Engelsburg: Folgt man den Bergwerksstollen Anna Maria und Steinbank, gelangt man sogar hinüber zur Zeche Robert und in die Nähe des Dahlhauser Eisenbahnmuseums an der Ruhr. Markant auch die Anbindung zum Werk Höntrop. Am unterirdischen Schießstand "Saure Wiese", die alten Karten zeigen es, wurden schwere Flak-Geschütze auf Funktion und Präzision getestet.
Mal gebückt, mal kriechend, mal kletternd geht es durch das Labyrinth. "Manche Stollen waren unterirdische Ausweichkrankenhäuser", erklärt Wilfried Maehler nebenher. Ein dumpfer Laut, ein Aufprall und mein Kopf wird unsanft zurück geschleudert. Stahl, fingerdick, krümmt sich von der Decke. Ein paar Zentimeter tiefer und er wäre ins Auge gegangen. "Aufpassen!", tönt es von vorn. Zu spät. Zu blöd, dass man Boden und Decke nicht gleichzeitig im schmalen Lichtstrahl betrachten kann.
Wieder streift der Helm die Decke. Im Scheinwerfer ist in die Decke eingelassener Stahl zu erkennen. Daneben eine Handbreit Beton, dann das nächste Eisen. Erinnert unwillkürlich an italienische Lasagne, auch, weil der Rost den Träger mittlerweile in ganzen Scheiben auflöst. Ob das wohl hält? "Keine Sorge", sagt Wilfried Maehler. "Das sind Straßenbahnschienen, so genannte 500er-Doppel-T-Träger. Darüber ist genügend Material, das trägt." Das Gehör des Laien registriert beruhigt eine tragende Schicht zwischen Stollendecke und Oberfläche von drei bis hin zu 50 Metern, im Fachjargon Überdeckung genannt.
Weiter geht es. Vorbei an Luft- und Wasserleitungen, Heizungs- und Druckrohren oder Furcht einflößenden 5000-Volt-Stromkabeln. Nicht alle sind Relikte aus grauer Vorzeit. Spätestens das Plätschern von Wasser erinnert daran, dass wir uns unter einem Guss-Stahlwerk mit aktivem Schichtbetrieb befinden. Die Gänge bestehen meist aus braunroten Ziegeln, die Decken sind im Halb- und Vollbogenprofil gemauert. Michael Ide klopft auf den Stein. "Doppelt gebrannt und besonders hart", doziert der Fachmann nüchtern.
Stollen und Schächte, soweit das (Augen)-Licht reicht. Enge Versorgungskanäle, nur 80 mal 80 Zentimeter groß, in denen die Leitungen und Rohre gebündelt untergebracht sind. Andere, leicht begehbare, bis zu drei Meter breit und knapp ebenso hoch. Etwas weiter im Boden lauert das nächste Aha-Erlebnis: Gleise und an Knotenpunkten Drehkreuze in alle Himmelsrichtungen. In einer Ecke umgestürzte Loren. Sie zeugen von reger Logistik tief unter der Erde. Vom ungestörten Transport von Schlacke und Zunder der Öfen und Schmiedehämmer. Aber auch von der geheimen Fertigung militärischer Produkte. Allerdings erst auf den zweiten Blick. Denn die Loren sind unterschiedlich. Die eine mit einem schwenkbaren Aufsatz und schrägen Wänden. Für Schüttgut. Die andere voluminöser, dafür mit exakt rechtwinkligen Ausmaßen. "Die Flakhülsen und Granaten durften nicht umkippen und beschädigt werden", erklärt Michael Ide. Ganz in der Nähe verbergen sich hinter einen halben Meter dicken Betonwänden, so genannten Splitterschutzwänden, die ehemaligen Luftschutzräume.
Wo heute angenehme Temperaturen herrschen, schoben früher meist ungelernte Arbeiter unter widrigsten Bedingungen die Loren hin und her. Schufteten mit reiner Muskelkraft, zentnerschwere heiße Schlacke ganz nah vor Augen. Im Zweiten Weltkrieg waren es vor allem französische Kriegsgefangene und polnische Zwangsarbeiter, die dem extrem heißen und staubigen Klima trotzen mussten. Sie sahen zudem kaum die Hand vor Augen. Die Abstände der heute noch vorhandenen 40-Watt-Lampen liegen bis zu 15 Meter auseinander.
An anderer Stelle hat sich Wasser seinen Weg durch die Stollen gesucht. Wie in einer natürlichen Höhle wachsen Tropfsteine von der Decke. Nur sind diese bei weitem nicht so mächtig und alt. Zwanzig, vielleicht auch dreißig Zentimeter lang, mit dem Umfang einer Stricknadel.
Manchmal endet der Weg auch abrupt. Dann versperrt eine Wand den Zugang. Oder Berge von Schutt und Geröll. Nur die Schienenstränge und Rohre weisen darauf hin, dass sie zu einem wichtigen Ort führen. "Von den Alliierten gesprengt und verschlossen", sagen Ide und Maehler. Heißt also, dass hier Produktionsstätten waren.
Rätselhaftes umgibt auch ein Natursteinfundament, das den gewohnten Wechsel zwischen Beton- und Ziegelsteinmauerwerk zum Schluss der Exkursion unterbricht. Die massigen Felsblöcke würden eher zu den Grundfesten einer alten Kirche passen, doch hier, mitten auf dem alten Industriegrund wirken sie völlig fremd und fehl am Platz. Auch die Fachleute zerbrechen sich schon seit Jahren den Kopf darüber, was diese Fragmente einst wohl gestützt haben. "Ein Zeitzeuge", sagen Wilfried Maehler und Michael Ide, "der seine Geschichte noch nicht erzählt hat."
06.02.2005 Von Nikos Kimerlis
Quelle: WAZ