Kohleindustrie
Chinas tödliche Minen
Von Christoph Hein
13. März 2005 Sie zahlen den höchsten Preis für Chinas unbändiges Wachstum: Die Kumpel, die in den Kohlebergwerken des Landes dafür sorgen, daß Kraftwerken und Fabriken der Brennstoff nicht ausgeht, beklagen ungezählte Opfer. Das offizielle Peking spricht von 6027 Bergleuten, die im vergangenen Jahr bei der Arbeit ihr Leben ließen - im Durchschnitt 17 Tote täglich. Kenner der Branche schätzen die Zahl auf mindestens das Dreifache.
So oder so sind Chinas Minen die gefährlichsten der Welt. Das Land baut als größter Kohlelieferant der Erde rund 35 Prozent des Weltbedarfs ab, steht aber für 80 Prozent der Todesfälle bei Bergleuten. Nicht einmal zwei Drittel der Minen erfüllen den Sicherheitsstandard, den die Regierung setzt - und der ist niedrig genug. Doch auch in die übrigen Schächte müssen die Kumpel Tag für Tag einfahren. Die Volksrepublik kann es sich angesichts von 9,5 Prozent Wachstum und einer Unterversorgung mit Energie nicht leisten, auch nur eine Kohlegrube zu schließen.
Die Leichen von Unfallopfern verschwinden
Für die Betreiber ist die Kohle ein glänzendes Geschäft. Sie beuten ihre Arbeiter aus, solange es geht. So erzählen Kumpel, sie hätten im vergangenen Jahr gerade einen Tag Urlaub gehabt. Immer wieder werden Fälle bekannt, wo Minenchefs die Leichen von Unfallopfern verschwinden ließen, um zu vertuschen und ungestört weiterarbeiten zu können. In der Mine von Chenjiashan war es schon vor einer Explosion und dem Tod von 166 Kumpeln im November vergangenen Jahres zu kleinen Bränden gekommen.
Trotzdem war das Produktionssoll für das Gesamtjahr schon Anfang November erfüllt. Die Bergleute aber mußten weiter einfahren - um Geld zu verdienen, aber auch, um den unersättlichen Hunger des Landes nach Energie zu decken. Kommt es zu Unfällen, wird Angehörigen gedroht, sie erhielten keine Entschädigung für den toten Vater, wenn sie an die Öffentlichkeit gingen. Die Zahlungen sind gering, legt man ein Arbeitsleben zugrunde: Umgerechnet weniger als 2.500 Euro habe eine Familie für den Tod ihres Ernährers erhalten, berichtete die Nachrichtenagentur Xinhua nach einem Unglück im Herbst.
Unter Tage tickt eine Zeitbombe
Die Regierung fährt ein hohes Risiko im Umgang mit ihren Bergleuten. Würden sie angesichts der katastrophalen Zustände streiken, wären weite Teile der fragilen Wirtschaft lahmgelegt. Ihre Proteste könnten zum Flächenbrand werden, der Regierung und Partei Schwierigkeiten bereitete. Ministerpräsident Wen Jiabao scheint zu dämmern, daß unter Tage eine Zeitbombe tickt. Noch vor Amtsantritt fuhr er unter großem Interesse der Staatsmedien in eine Mine ein und aß mit den Bergleuten unter Tage Teigklößchen mit Schweinefleisch. Bei der Plenarsitzung des Volkskongresses in der Großen Halle des Volkes in Peking machte Wen kürzlich das Schicksal der Bergarbeiter zum Thema. Dann und wann läßt er sich beim Besuch der Hinterbliebenen umgekommener Kumpel fotografieren.
Neben diesen tränenreichen Auftritten reagiert Peking so, wie es meist reagiert, wenn es unter Druck kommt: mit Entlassungen. Mit Beschwichtigungen. Mit Versprechungen. Letztgenannte machte auch der neue Mann, der die Verantwortung für die Gesundung des verrotteten Industriezweiges übernommen hat. Li Yizhing ist Chef der Generalverwaltung für Arbeitssicherheit. Ihm eilt ein guter Ruf voraus, hat er doch schon als Chairman der staatlichen Ölgesellschaft und des BASF-Partners Sinopec und als Vize-Chairman der Agentur für die Führung der Staatskonzerne gearbeitet.
Zwischen 1992 und 2002 gab es 59.543 Tote
Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Ankündigung, Geld in die Hand zu nehmen. Gut 50 Milliarden Yuan (4,5 Milliarden Euro) sollen „in den kommenden Jahren” für die Sicherheit der Minen bereitgestellt werden, sagte er. Einen Zeitrahmen oder auch ein konkretes Programm nannte er nicht, auch Schließungen wenigstens der schlimmsten Minen kündigte er nicht an. „Die Sicherheitsstandards zu erhöhen und zugleich die Produktion auszuweiten ist natürlich ein Widerspruch”, sagt Li statt dessen. Um anzufügen: „Wir sind gezwungen, mehr zu produzieren. Aber die Sicherheit kommt zuerst.” Zur Zeit überprüften die Behörden den Zustand der Minen in 21 Provinzen des Landes. „Die Regierung und der Staatsrat sind alarmiert”, sagte Li.
In Fuxin kommen die Kontrolleure einmal mehr zu spät. Dort sind Mitte Februar bei einer Explosion in der Kohlegrube 214 Bergleute gestorben - das schwerste Unglück, über das eine chinesische Regierung seit 1949 berichtet hat. So außergewöhnlich, wie es scheint, war das Inferno in Fuxin freilich nicht: Im Oktober vergangenen Jahres ließen 148 Kumpel in einer Mine nahe Zhengzhou bei einer Gasexplosion ihr Leben. Im November folgte die Explosion in den Stollen des Bergwerks von Chenjiashan mit 166 Toten. In der Dekade zwischen 1992 und 2002 verloren 1020 Bergleute in Indien ihr Leben - und 59.543 in China, wie die Zeitung „Straits Times” berechnet hat.
Verbesserung der Lage für das Image an der Börse
Fachleute befürchten nun, daß die Schreckensbilanz des selbsternannten Arbeiterstaates indirekt zum Steigen der Kohlepreise führe: So berichtet Yanzhou Coal Mining, Shandong, daß der Zwang zum Ausbau der Sicherheit in bestehenden Anlagen die Kosten für den Abbau einer Tonne Kohle schon im Jahr 2002 um 1,1 Yuan habe steigen lassen - dies machte 28 Prozent der Steigerung der Gesamtkosten aus. Der Gesamtverbrauch Chinas wird in diesem Jahr auf 2,15 Milliarden Tonnen geschätzt; unter dem Strich kommt so also ein nennenswerter Gesamtbetrag heraus. Zumal steigende Nachfrage, Engpässe im heimischen Bergbau und in der Infrastruktur die Kohlepreise im vergangenen Jahr schon um rund 40 Prozent nach oben getrieben haben.
So sehr die Unternehmen jetzt beginnen, über steigende Kosten zu klagen, so notwendig ist eine Verbesserung der Lage zumindest für die Branchenführer. Denn mit der Shenhua-Gruppe und der China National Coal Group Corp. drängen die beiden führenden Kohlekonzerne in diesem Jahr an die Börse in Hongkong. Sie wollen 1,5 und eine Milliarde Dollar von internationalen Investoren einsammeln - Unfälle in der Branche machen sich da schlecht.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.03.2005, Nr. 10 / Seite 46
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